von FOCUS-Online-Experte Andreas Umland
Trotz der Krim-Annexion,
Russlands Einmischung in den Ukraine-Krieg und die russischen Bombardements in
Syrien verteidigen viele Meinungsmacher in Deutschland Russland: Das Land sei
kein Aggressorstaat. Dahinter könnte ein historisches Verantwortungsgefühl
vieler Deutscher gegenüber den Russen wegen der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg
stehen, schreibt Ukraine-Experte Andreas Umland.
Die Kaltblütigkeit des Kremls
bei der Bombardierung Aleppos und die Ungerührtheit, mit der Moskau jüngst
unter anderem deutsche Vorschläge zur Rettung der Zivilbevölkerung der Stadt
abwiegelte, hat das ohnehin angeschlagene Image Putins in Deutschland nochmals
beschädigt. Angesichts des zunehmenden Vertrauensverlusts der Deutschen zum
Kremlchef, gibt es nur noch wenige deutsche Beobachter, die für die heutige
russische Führung offen Partei ergreifen.
Ein Wandel der deutschen
öffentlichen Meinung gegenüber der russischen Führung hat damit begonnen, noch
bevor die beiden wichtigsten jüngeren US-amerikanischen Untersuchungen zu
Putins Regime in Deutsch erschienen sind. In ihrer akribischen Monographie
„Putins Kleptokratie“ (Simon & Schuster 2015) entlarvt die Professorin
Karen Dawisha die heutige Führungsriege Russlands als ein international
vernetztes Verbrechersyndikat.
In seiner nach einem
russischen Sprichwort benannten investigativen Studie „Je weniger Du weißt,
desto besser schläft es sich“ (Yale University Press 2016) erläutert der
ehemalige Moskaukorrespondent der „Financial Times“ und des „Wall Street
Journal“ David Satter, warum die berüchtigten Terroranschläge auf russische
Wohnhäuser im Jahr 1999 wahrscheinlich eine verdeckte Aktion des russischen Geheimdienstes
zur Inthronisation Putins als Präsident waren.
Von der Putinversteherei zur
Desillusionierung
Vor zwei Jahren noch sah ein
großer Teil der deutschen Öffentlichkeit und Elite die Moskauer Führung als
eigenwilligen und schwierigen, aber doch vollwertigen und respekteinflößenden
Partner an. Russland erschien 2014 vielen als ein vom triumphierenden Westen
getriebener und nationalistischen Ukrainern provozierter weltpolitischer
Underdog, welcher auf der Krim und im Donezbecken lediglich auf bedrohliche
Veränderungen in der Nachbarschaft reagierte.
Von hunderten bezüglich
Osteuropa häufig unbedarften Journalisten, Politikern, Staatsbeamten,
Kulturschaffenden, Wirtschaftsvertretern und Fernsehsatirikern wurde immer und
immer wieder eine Art „Causa Ukraine“ beschworen. Der Kremlpropaganda folgend,
wurde die Mär vom „Putsch“ und „Bürgerkrieg“, von „Faschisten“, „US-Steuerung“,
„NATO-Expansion“ und ähnliche Vereinfachungen sowie Verdrehungen ad libitum
wiederholt, um einen angeblichen ukrainischen Sonderfall ohne gleichen zu
konstruieren.
Der scheinbar unhaltbare
Ausnahmezustand in Russlands Hinterhof erklärte in der Darstellung vieler
deutscher Meinungsmacher die unerwartete und übertriebene Reaktion des Kremls,
ja rechtfertigte sie in der realitätsfremden Interpretation einiger besonders
konspirologisch engagierter Beobachter gar.
Das Verhalten des Kremls
wiederholt sich: "faschistisch" sind immer die anderen in der Region
Jedoch wussten
Osteuropainteressierte bereits damals, dass das Verhalten des Kremls in der
Ukraine nur früheren Aggressions- und Argumentationsmustern Moskaus in Moldau
und Georgien folgte, wo „Faschismus“, „SS“, „Genozid“ und andere Schreckbilder
ebenfalls zur Rechtfertigung russischer Truppeneinsätze dienten und dienen.
Bezüglich der populären
deutschen Vorstellung von einem angeblich drohenden NATO-Beitritt der Ukraine
als Grund für Russlands Verhalten war damals bereits erwähnenswert, dass in der
Verfassung Moldaus seit 1994 der blockfreie Status des Landes festgeschrieben
ist. Seither hat es keinerlei Anzeichen für die Absicht eines NATO-Beitritts
Chişinăus gegeben, auch gibt es keine gemeinsame russisch-moldauische Grenze.
Diese und ähnliche
Unterschiede zu den künftigen NATO-Mitgliedern Georgien und der Ukraine hat
Moldau allerdings nicht vor einer bereits knapp ein Vierteljahrhundert
währenden illegalen Teilokkupation durch ein russisches Truppenkontingent
bewahrt. Aber wie viele Deutsche würden schon den seit 1992 aus Moskau
ferngesteuerten postsowjetischen Pseudostaat Transnistrien im Osten Moldaus auf
einer europäischen Landkarte markieren können?
Seit bald einem Jahr agiert der Kreml nunin Syrienin einem grundverschiedenen Kontext und geographisch sowie kulturell noch weiter von Russland entfernten Krisenherd ähnlich aggressiv und noch ungeschminkter, als zuvor schon in der Ukraine, Georgien und Moldau.
Auch hat inzwischen der „faschistische Putsch“ in Kiew mit Wolodymyr
Hroisman einen ukrainischen Premierminister mit offiziell jüdischem
Familienhintergrund an die Macht gespült. (Freilich wurden auch schon dem im
Sommer 2014 an die Macht gelangten Präsidenten Petro Poroschenko sowie dem aus
Czernowitz stammenden ersten postrevolutionären ukrainischen Premier Arsenij
Jazenjuk jüdische Wurzeln nachgesagt.) Neue Informationen zu den erstaunlichen
Regressionen des Kremls in und außerhalb Russlands in so verschiedenen
Bereichen wie Medien, Cyber, Sicherheit, Sport, Datenschutz und so weiter
beherrschen inzwischen allwöchentlich die Agenturmeldungen aus Moskau.
Das Vergessen des deutschen Ukrainediskurses von 2014
Dies müsste an und für sich auch Rückwirkungen auf die Bewertung der
früheren deutschen Präsentation, Kommunikation, Diskussion und Reproduktion des
pseudohumanitären, geschichtsverbrämten und identitätspolitischen Narrativs des
Kremls zum Hergang des Ukrainekonflikts haben. Jedoch bleibt bisher eine
öffentliche deutsche Selbstkritik der bis 2015 vorherrschenden „balancierten“
Bewertung der russisch-ukrainischen Konfrontation bei den deutschen Parteien,
Medien und Intellektuellen aus.
Viele Deutsche wissen nach den letzten Ereignissen und Enthüllungen zwar,
dass es sich bei der russischen Führungsmannschaft um eine weit zynischere
Regierungsclique handelt, als sich das manch eine/r noch bis vor kurzem
vorzustellen vermochte. Ein „Mea Culpa“ der hunderten deutschen Meinungsmacher,
die noch vor zwei Jahren die ukrainische Innenpolitik und westliche Ukrainepolitik
für die russischen Überreaktionen auf der Krim und im Donezbecken mit- oder gar
hauptverantwortlich machten, ist bislang jedoch nicht auszumachen.
Eine Entschuldigung für die deplatzierte allwöchentliche Verunglimpfung der
ukrainischen Revolution der Würde nicht nur an deutschen Stammtischen, sondern
auch in maßgeblichen Institutionen der Republik wie dem Deutschen Bundestag
oder öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist bisher ausgeblieben.
"Wo bleibt die deutsche Fähigkeit zur Kritik, Ausgewogenheit und
Balance?"
Wie konnte es passieren, dass bedeutende Teile des deutschen
Bildungsbürgertums über Monate den proeuropäischen Aufstand eines der großen
Opfervölker von Deutschlands „Russlandfeldzug“ 1941-1944 mit dutzenden
Halbwahrheiten, Verdrehungen und Unterstellungen entwürdigten? Wo bleibt die
deutsche Fähigkeit zur Kritik, Ausgewogenheit und Balance, wenn es nicht um die
Brandmarkung arroganter Amerikaner, nationsversessener Ukrainer oder blinder
Eurokraten, sondern um Reue für eigene Aberrationen geht? Ist der
demonstrativen „Unparteilichkeit“, welche große Teile der deutschen
Öffentlichkeit und Elite 2014-2015 bei der Debatte um die „Ukrainekrise“ in
dutzenden Talkshows, Reportagen, Kommentaren, offenen Briefen,
Podiumsdiskussionen und Satiren zelebrierte, heute nichts mehr hinzuzufügen?
War die im- oder teils sogar explizite Gleichstellung eines – wie immer
neuer journalistische Enthüllungen illustrieren – von Kriminellen angeführten
Aggressorstaates einerseits mit einer fehlerbehafteten jungen Nation, welche
2014 Opfer einer notdürftig kaschierten territorialen Expansion wurde,
andererseits lediglich ein Kavaliersdelikt? Waren die deutschen
Teilrechtfertigungen des sich fortsetzenden revanchistischen Abenteurertums
einer nuklearen Supermacht sowie offiziellen Garantiemacht des
Atomwaffensperrvertrags, welche 2014 zuhauf in den deutschen Medien kursierten
und partiell noch heute im Umlauf sind, bloße diskurspraktische Lappalien?
Wäre nicht gerade aus einer antiimperialistischen, pazifistischen, vergangenheitsbewussten,
menschenrechtlich orientierten und proeuropäischen – also „linken“ – Sorge um
die Schwachen und Gepeinigten dieser Welt heraus eine Bitte um Verzeihung
etlicher deutscher Kommentatoren und Moderatoren bei den Ukrainern fällig?
Eine unbewältigte Vergangenheit
Wie die vergangenen zwei Jahre gezeigt haben, steht die gepriesene deutsche
Vergangenheitsbewältigung in einiger Hinsicht erst am Anfang. Zwar wird
deutsche Verantwortung für den Genozid an den Juden und die Vernichtung anderer Minderheiten sowie deren Wahrnehmung nach dem
Zweiten Weltkriegin unzähligen Untersuchungen und Kunstwerken behandelt. Die Millionen
ukrainischen Opfer kommen in diesem Narrativ sowie bei der Diskussion um die
heutigen Implikationen vergangener deutscher Verbrechen jedoch meist nur am
Rande vor. Zudem erscheinen sie oft eher als Kollaborateure und Nationalisten
denn als Vernichtungsobjekte, KZ-Insassen, Ausgebeutete oder Zwangsarbeiter.
In Abweichung von diesem Muster gibt es ein ausgeprägtes historisches
Verantwortungsgefühl vieler Deutscher gegenüber den Russen, auch wenn deren
Vertreter ebenfalls in hoher Zahl kollaborierten. Heute dient das hochpräsente
Schuldbewusstsein gegenüber den Russen als Resonanzboden für einen
kryptohegemonialen Ansatz einiger Deutscher gegenüber den rätselhaften
postsowjetischen Völkerschaften (Moldawier, Ukrainer, Georgier und so weiter)
im politischen undefinierten „Zwischeneuropa“ einschließlich des Südkaukasus.
Demnach, so die dahinterstehende Weltsicht, müssen die zwei großen Nationen Europas– Deutsche und Russen – sich in Überwindung alter Feindseligkeiten und
amerikanischer Einmischung ökonomisch vernetzen und über die politische
Neuordnung der objektifizierten Territorien zwischen Europäischer Union und
Russischer Föderation einigen.
Der an und für sich lange ökonomische Hebel Deutschlands zur politischen
Druckausübung auf Moskau kommt bisher nicht nur als Resultat erfolgreicher
Lobbyarbeit politisch uninteressierter deutscher Unternehmer und Manager
beschränkt zum Einsatz. Die stabil strikte deutsche Ablehnung jeglicher
Waffenlieferungen an die Ukraine ist nicht nur Ausfluss eines schematischen
Fundamentalpazifismus, der auch für deutsche militärische Hilfe an Opfer
hochgerüsteter Aggressionen gilt.
Woher kommt die Gleichgültigkeit gegenüber der Ukraine?
Der deutsche Gesamtdiskurs über die deutsch-russischen Beziehungen –
einschließlich der Debatte um etwaige Beschränkungen deutscher Ölimporte aus Russland – wird auch von deutschen Schuldgefühlen gegenüber der russischen
militärischen Supermacht einerseits und teilweiser Gleichgültigkeit gegenüber
dem militärischen Zwerg Ukraine andererseits mitbestimmt.
Es entsteht gar der Verdacht, dass die beharrliche deutsche Verweigerung
sowohl einer Verschärfung der Sanktionen gegen Russland als auch einer
Lieferung etwa moderner Panzerabwehrraketen an die existenzbedrohte Ukraine
eine Art nachgeholte deutsche Wiedergutmachung an der einst von Deutschen
geschundenen russischen Nation ist. Die Blamage der pseudo-sozialdemokratischen
Ostpolitik in Aleppo sollte auch Anlass für eine deutsche Diskussion um die
Folgen von Profitstreben im Russlandhandel, von geschichtspolitischen
Unterlassungen bezüglich der Völker Osteuropas sowie der Fehleinschätzungen des
Putin-Regimes zu Beginn der sogenannten „Ukraine-Krise“ sein.
Über den Experten
Dr. Andreas Umland ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation Kiew und Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ des ibidem-Verlags Stuttgart.
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