(Die
Presse)
Litauens Ex-Premier und Oppositionschef Kubilius
über "Moskaus totale Propaganda" und EU-Fehler in der Ukraine.
Die Presse: Litauen erhöhte seine
Verteidigungsausgaben 2014 um 50 Prozent und damit mehr als jedes andere EU-
und Nato-Land. Seit dieser Woche gibt es wieder die Wehrpflicht. Schützt Sie
die Nato nicht?
Andrius Kubilius: Doch, aber eine der größten Gefahren ist, dass die
Russen aus einem aggressiven Abenteurertum heraus etwas unternehmen, also ohne
Langzeitstrategie, nur um uns zu testen. Um das zu verhindern, muss man sie
wissen lassen, dass es eine sehr starke Verteidigung auf unserem Territorium
geben würde, und zwar noch bevor die Nato-Kräfte zur Hilfe kämen. Deshalb
rüsten wir auf, deshalb schaffen wir Spezialeinheiten gegen „kleine grüne
Männchen“.
Sie haben schon 2008 vor dem Szenario gewarnt, dass
Russlands Militär die Nato im Baltikum testen könnte. Litauen wäre „ein
leichtes Ziel“, sagten Sie damals.
Ja, genau davor fürchten wir uns, und deshalb
verlangen wir eine wirksamere Reaktion der westlichen Gemeinschaft zur
Unterstützung der Ukraine. Denn sieht Putin, dass er in der Ukraine machen
kann, was er will, kann sein nächster Zug irgendwo in Litauen, Lettland oder
Estland erfolgen. Nur, um die Kapazität der Nato zu testen, ihre Mitglieder zu
verteidigen. In Litauen ist die größte Gefahr die Transitstrecke nach
Kaliningrad (russische Exklave; Anm.). Es wäre leicht, dort eine Sabotage oder
Provokation durchzuführen und dann unter dem Vorwand des Schutzes von
Kaliningrads Interessen einzugreifen.
Ihre Präsidentin, Dalia Grybauskaitė, behauptet gar,
Russland sei im Krieg mit Europa. Ist das nicht übertrieben?
Ich stimme ihr voll zu. Und auch die Zukunft Russlands
wird in der Ukraine entschieden. Das strategische Ziel hinter Putins
militärischer Aggression ist ja nicht, Land zu besetzen. Er will verhindern,
dass die Ukraine ein wirtschaftlich erfolgreicher Staat wird, denn das wäre die
größte Gefahr für sein Regime. Der einzige Weg, wie wir Russland helfen können,
ein normales Land zu werden, ist durch die Unterstützung der Ukraine.
Bestätigen Sie da nicht den Vorwurf Moskaus, dass es
seinen Kritikern im Ausland nicht um das Wohl der Ukraine geht, sondern den
Sturz des russischen Regimes?
Die Regierung würde ja durch Russen gestürzt, die
sehen, dass ihre Nachbarn und Verwandten in der Ukraine in der Lage waren, ein
erfolgreiches Land aufzubauen. Russlands Probleme speisen sich aus einem
postimperialen Syndrom. Es war das letzte Imperium in Europa, das zerfallen
ist. Auch Frankreich hatte nationale Probleme, als es einst seine Kolonien
verlor. Bei Russland kommt hinzu, dass die Gebiete heute in direkter
Nachbarschaft liegen. Putin wehrt sich gegen den erfolgten Kollaps und
verhindert, dass Russland ein normales Land wird.
Ihr Außenminister bestätigte der „Presse“, dass
Litauen tödliche Waffen an die Ukraine geliefert hatte. Besteht nicht die
Gefahr, dass es dadurch zu jener Regionalisierung des Ukraine-Konflikts kommt,
vor der man sich im Baltikum fürchtet?
In westlichen Hauptstädten heißt es: „Wenn ihr ihnen
tödliche Waffen liefert, dann provoziert ihr damit die russische Armee.“ Ich
sage: „Wenn wir die Ukraine nicht ausreichend militärisch unterstützen,
provoziert das die russischen Militärs umso mehr.“ Ich nenne das eine Gangstermentalität.
2010 hatte ich als Premier mit Putin ein einstündiges informelles Gespräch. Es
kam mir danach so vor, als hätte ich ihn schon lang gekannt. Er erinnerte mich
an junge Schlägertypen in der Vorstadt von Vilnius, wo auch einige Russischsprachige
wohnen. Wenn einer dieser Typen das Gefühl gehabt hat, du willst verhandeln,
dann hat er das primitiv als Schwäche ausgelegt und zugeschlagen.
Ihr Land hat als Antwort auf die Krise den Empfang
russischer Sender in Litauen gesperrt. Ist das demokratisch?
Meinungsfreiheit kann doch nicht als Freiheit zur
Desinformation missbraucht werden. Im Westen unterschätzt man, womit wir
konfrontiert sind – wir verstehen ja Russisch. Ich sage immer: Goebbels würde
sie um ihre Möglichkeiten beneiden, wenn er diese russischen Sender sehen
könnte. Wenn Sie auf dem europäischen Kontinent Faschismus auf Staatsebene
sehen wollen: Schauen Sie russisches Staatsfernsehen. Totale Propaganda, totale
Desinformation, aber wirkungsvoll.
Sie waren Premier, als sich Österreich weigerte, den
in Litauen gesuchten russischen Ex-KGB-Offizier Golowatow auszuliefern. Damals
warfen Sie Wien einen Mangel an europäischer Solidarität vor. Besteht dieser
Mangel auch im Ukraine-Konflikt?
Ich glaube, es fehlt auf EU-Führungsebene der Wille
für eine klare gemeinsame Strategie gegenüber Russland. Derzeit beschränkt sich
die Strategie ja darauf, nur nichts zu tun, was Russland als Provokation
auslegen könnte.
Ich frage auch nach Österreich, weil Sie auf Einladung
der Wirtschaftskammer hier sind, die Putin noch im Juni 2014 einen warmen
Empfang bereitet hat.
Wir wissen, dass Österreich versucht, irgendwie
dazwischen zu sein. Und ja, ich würde gern viel mehr Solidarität sehen, auch
von Österreich, wenn es um eine gemeinsame Strategie der EU gegenüber Russland
geht.
Wie könnte diese Strategie aussehen?
Die ganze Kraft sollte dafür verwendet werden, die
Länder zwischen Russland und der EU zu unterstützen, wie die Ukraine, Moldau
und Georgien. Wenn diese Länder die Kriterien erfüllen, dann sollte man ihnen
die EU-Mitgliedschaft anbieten. Was hat denn Litauen erlaubt, Reformen
umzusetzen? Es war der Umstand, dass wir zugesichert bekamen, EU-Mitglied
werden zu können. Wir sind nicht cleverer als die Ukrainer. Wir Litauer sind
emotionaler, wir nennen uns die Italiener des Nordens. Aber die Aussicht auf
die EU-Mitgliedschaft hielt uns auf Kurs.
Ukraines Präsident, Petro Poroschenko, hat Sie für
sein Team als internationaler Berater verpflichtet. Was ist abseits des Kriegs
das größte Problem der Ukraine?
Die alltägliche Korruption auf der unteren Ebene. Wenn
etwa das Durchschnittseinkommen in den Ministerien bei 200Euro liegt, kommt
Korruption ganz von selbst. Sie sollten also den Staatsapparat verkleinern und
dann die Gehälter erhöhen.
ZUR
PERSON
Andrius Kubilius (58) führte nach einem ersten Intermezzo (1999–2000)
ab 2008 eine Mitte-rechts-Regierung in Litauen an. Als Premier setzte er in dem
Drei-Millionen-Einwohner-Land harte Reformen durch. Dennoch hielt er sich als
erster Regierungschef Litauens alle vier Jahre im Amt. 2012 verlor er aber die
Wahl. Heute ist der Chef der Vaterlandsunion Oppositionsführer im Parlament und
berät den ukrainischen Präsidenten, Petro Poroschenko.
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