von PETRO POROSCHENKO, PRÄSIDENT DER UKRAINE
Der Krieg in der Ostukraine wütet
weiter. Der Friedensprozess stolpert über Putins Hintergedanken. Den Fehler von
vor zwei Jahren sollten wir nicht wiederholen. Ein Gastbeitrag.
„Wir müssen endlich aufhören, uns selbst über die wahren Absichten Russlands zu täuschen. Sonst besteht die Gefahr, dass die Aggressionen des Kremls global werden.“
Trotz
des Waffenstillstands zum Schuljahresanfang sind in der kurzen Zeit seither, diesen
anderthalb Monaten, in Kämpfen mit den russischen „grünen Männchen“ und ihren
Söldnern im Donbass 19 meiner Soldaten getötet und mehr als hundert verletzt
worden. Mehr als 800 Mal gab es im September russischen Beschuss, mehr als 500
Mal schon in diesem Monat. Der Krieg wütet weiter, und es gibt vielfache Belege
dafür, dass der Minsk-Prozess über Russlands ewige Maskerade strauchelt. Es ist
Zeit, unser Denken über Russlands Absichten zu korrigieren, denn sie sind nicht
nur eine Bedrohung für die Ukraine, sondern für Sicherheit und Stabilität in
Europa.
Noch vor wenigen Jahren
hätte ich nicht geglaubt, dass Russland sich eines Tages in einer gewaltsamen
Aggression gegen einen freundlichen Nachbarn richten könnte, wie es die Ukraine
einmal war. Auch nach dem russischen Feldzug in Georgien glaubten viele noch an
die Rückkehr des Kremls zu jener Nachkriegsordnung, die auf Regeln und nicht
Gewalt basiert.
Russland versucht, Krim-Szenario im Donbass zu
wiederholen
Damals war ich unter
denen, die so dachten, aber meine gegenwärtige Wahrnehmung des heutigen
Russland ist eine andere: Sie wurde über Nacht herausgefordert, als der Kreml
zuerst eine Annexion der Krim anordnete und dann den Osten meines Landes
militärisch angriff. Er orchestrierte eine Maskerade „grüner Männchen“ auf der
Halbinsel und schlich sich in den Donbass, während er behauptete: „Wir sind
nicht dort.“
Die Wahrheit kam recht
bald ans Licht, als Präsident
Putin persönlich bekannte,
dass russische Soldaten hinter den Wählern auf der Krim standen, um sie während
des sogenannten Referendums zu schützen. Es ist offensichtlich, dass diese
Soldaten nicht die Wähler, sondern die Abstimmung und ihr gefälschtes Ergebnis
schützen sollten. Sieht das in diesen Tagen nicht bekannt aus, wenn Russland
versucht, dieses Szenario im Donbass zu wiederholen, indem es auf eine
politische Lösung und Lokalwahlen vor allen anderen Schritten dringt? Ist es
nicht klar, dass die prorussischen Söldner im Donbass sind, damit ein weiteres
Stück des ukrainischen Gebiets der Aggression des Kremls zum Opfer fällt? Oder
glaubt immer noch jemand, dass dort keine russischen Soldaten stehen?
Kreml leugnet Einmischung
Wir sollten nicht wieder
in die Falle laufen, uns mit Russlands leeren Zusicherungen zu trösten. Sie
sind so vergiftet wie seine Manipulationen. Nach Erkenntnissen des ukrainischen
Geheimdienstes sind im Donbass mehr als 700 russische Panzer, mehr als 1250
Artilleriesysteme, mehr als 1000 Mannschaftstransportwagen und mehr als 300
Raketenwerfer. Die prorussischen Kämpfer im Donbass haben buchstäblich mehr
Panzer und mehr Raketenwerfer als die deutsche Bundeswehr.
Aber diese Erkenntnisse halten den Kreml nicht davon ab,
seine Einmischung in diesem Gebiet zu leugnen, so wie er es schon im Fall der
Krim getan hat. Ohne Russland könnte dieses enorme militärische Potential dort
nicht sein. Es kam ohne Einladung in mein Land und ist zu keinem anderen Zweck
dort als einzuschüchtern und zu töten. Es soll den Donbass (und die Ukraine) so
lange bluten lassen, wie sein Meister es wünscht.
Russland täuscht die westliche
Öffentlichkeit
Das Leugnen hat Russlands Appetit lange gedient. Jüngst
wurden in den Niederlanden die ersten Ergebnisse der internationalen Untersuchung
zum Abschuss von MH17 veröffentlicht. Die Tragödie, die zum Verlust von 298
unschuldigen Leben – darunter 80 Kinder – führte, geschah im Juli 2014 im
Himmel über dem Donbass, außerhalb der Kontrolle der ukrainischen Behörden.
Russlands Desinformationsmaschinerie ist groß darin, Tonnen von frei erfundenen
Theorien zu produzieren, um die Untersuchung und die westliche Öffentlichkeit
zu täuschen – von einem ukrainischen SU-25 Kampfflugzeug, das MH17 angeblich
abgeschossen hat, bis zu ukrainischen, nicht russischen Luftabwehrraketen.
Nach einer gewissenhaften und umfassenden Untersuchung ist
nun bewiesen, dass es eine russische Rakete war, die von einem russischen
„Buk“-System abgeschossen wurde, das aus Russland in die Ukraine gebracht
worden war und gleich nach dem schockierenden Verbrechen nach Russland
zurückgekehrt ist. Hat man von dort irgendein Bedauern über die
aufschlussreichen Ergebnisse gehört, außer ihrer Leugnung – die Ergebnisse
seien „politisch motiviert“ – und der Einbestellung des niederländischen
Botschafters in Moskau?
Die wahren Absichten Russlands
Es ist außerordentlich wichtig, dass die Untersuchung zu
MH17 festgestellt hat, dass die berüchtigte „Buk“ über einen unkontrollierten
Teil der ukrainischen Grenze mit Russland in dieses Land zurückgekehrt ist.
Diese Tatsache bestätigt die entscheidende Bedeutung der Grenzkontrolle für
eine umfassende Regelung im Donbass – etwas, worauf die Ukraine seit langem
besteht. Welches andere russische Kriegsgerät könnte in die Ukraine gelangen,
ohne dass es von den ukrainischen Behörden oder internationalen Beobachtern
aufgespürt werden kann? Verhindert Russland den vollen Zugang der
OSZE-Beobachtungsmission zu unserer Staatsgrenze und dem ganzen Gebiet des
Donbass nicht gerade deshalb, um seine Infiltrationskanäle für Kriegsgerät und
Mannschaften zu sichern?
Wir sollten endlich aufhören, im Hinblick auf die wahren
Absichten Russlands so naiv zu sein wie wir es 2008 und noch 2014/15 waren. Es
hat keine Lust, seine Aggression zu beenden, wenn wir sie nicht gemeinsam
stoppen. Betrug und Manipulation sind nur wirksam, wenn Solidarität und
Weitsicht fehlen. Darum brauchen wir beides, einschließlich Sanktionen, die
gelten, bis die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine wieder
hergestellt sind. Sie halten Russland am Verhandlungstisch und hindern es,
einen noch größeren Verlust an Menschenleben zu verursachen.
Wir alle sollten keine
Anstrengungen scheuen, nach und nach Russlands Maskerade zu enttarnen, wo immer
das möglich ist – sei es im Donbass oder in Aleppo. Das ist es, wie wir immer
noch versuchen können, Russland dazu zu bringen, die Nachkriegsordnung zu
respektieren. Der Donbass kann zum Beispielfall dafür werden, dass man aufhört
so zu tun, als sehe man die Maskerade der russischen Aggression in der Ukraine
nicht – um so zu verhindern, dass sie auf die ganze Welt übergreift.
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