Thursday, June 9, 2016

Polizeiversagen bestärkte die Kölner Sex-Täter


Eine vertrauliche BKA-Analyse zu den sexuellen Übergriffen in Köln besagt: Die mangelnde Polizeipräsenz dürfte die Täter ermutigt haben. Auch "Perspektivlosigkeit" wird als möglicher Auslöser genannt.


Mangelnde Präsenz der Polizei und fehlender Druck auf Täter haben die hundertfachen sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht von Köln und in anderen Großstädten offenbar begünstigt. Dies geht aus einer vertraulichen Analyse des Bundeskriminalamtes (BKA) hervor, die nun erstmals bekannt wurde und der "Welt" vorliegt.


"Ein stark beeinflussender Faktor dürfte in der Wahrnehmung der Täter bestanden haben, dass sie offenbar weitgehend keine nachhaltig negative Strafverfolgung zu befürchten hatten", heißt es in dem 42-seitigen ersten Sachbestandsbericht der Bund-Länder-Gruppe "Silvester" unter Federführung des BKA von Ende Februar dieses Jahres. Der brisante Bericht ist als "Verschlusssache" klassifiziert und trägt die Aufschrift "VS – Nur für den Dienstgebrauch". Das Dokument dürfte dem Untersuchungsausschuss "Silvesternacht Köln" im Landtag Nordrhein-Westfalen wichtige Hinweise bei der Aufklärungsarbeit liefern.

Vorgehen fast überall gleich

In diesem Bericht werden Gründe aufgezählt, warum es in verschiedenen deutschen Städten zu Hunderten von sexuellen Übergriffen, teilweise kombiniert mit Diebstählen, gekommen war. Die Bund-Länder-Gruppe konzentrierte sich auf Köln sowie die am stärksten betroffenen Städte Stuttgart, Frankfurt am Main,Hamburg und Düsseldorf. Als lokale Schwerpunkte nennt sie vor allem die Innenstadtbereiche, "inkl. Eiserner Steg und das Bahnhofsviertel (Frankfurt am Main), die Altstadt (Düsseldorf), Vergnügungsviertel/Flaniermeilen (Hamburg) sowie der Bahnhofsbereich inkl. Breslauer Platz und Domkloster (Köln)".

Meist bildeten sich Gruppen von mehr als neun Tätern, in einem Fall waren es sogar 100 Männer. Das Vorgehen war fast überall gleich. Einzelne Frauen wurden eingekreist und an Brüsten, Po und zwischen den Beinen angefasst. In mehreren Fällen wurden Finger in die Vagina eingeführt. In Hamburg wurden vor allem Frauen mit Rock zum Opfer; teilweise wurden Strumpfhosen und Slips zerrissen. Bei den Delikten geht es um sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Beleidigung sowie teilweise um Diebstahl überwiegend von Mobiltelefonen.
Von den Ende Februar bekannten 62 Straftätern wurden "überwiegend Flüchtlinge/Asylbewerber und Personen mit Migrationshintergrund" als Tatverdächtige identifiziert. Die 911 Opfer seien "fast ausschließlich weiblich, mehrheitlich zwischen 18 und 24 Jahre alt und besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit", heißt es im Bericht.

Gruppendynamische Entwicklung

Nach den Erkenntnissen der Ermittler gibt es keine belastbaren Hinweise für ein verabredetes Vorgehen. Stattdessen geht man von einer gruppendynamischen Entwicklung aus, die nach internationalen Forschungsergebnissen durch mehrere Faktoren begünstigt worden sein könnte:
1. Taharrush gamea
In Deutschland hat es Sexualdelikte aus Personengruppen heraus so noch nicht gegeben; allerdings sei das Vorgehen in nordafrikanischen und asiatischen Ländern "stark verbreitet" und stelle eine "Form der Alltagsgewalt gegen Frauen" dar. Das Kriminalistische Institut des Bundeskriminalamtes hat internationale Erkenntnisse beigesteuert, um das Phänomen von Sexualdelikten durch Personengruppen im öffentlichen Raum zu erklären.
Demnach gibt es große Ähnlichkeiten zur Praxis "taharrush gamea" oder "taharrusch dschama'i" in Ägypten und dem "Eve teasing" in Indien, Pakistan und Bangladesch. Nach internationalen Forschungen sei Gewalt an Frauen ein allgemeines Problem, "aber vor allem in ökonomisch schwachen Ländern und Krisengebieten verbreitet".
2. Ungewissheit über die Zukunft
Eine "andauernde Perspektivlosigkeit" wegen fehlender Chancen auf Asyl und Arbeit könne "als Auslöser für Frust und Aggression gewertet werden", heißt es im Bericht. "Kriminalitätshemmende Faktoren wie die Integration auf dem Arbeitsmarkt bzw. im Bildungssystem und die familiäre Eingebundenheit und Fürsorge kommen bei dieser besonderen Tätergruppe kaum zum Tragen."
3. Gruppendruck
Es sei anzunehmen, dass gruppendynamische Prozesse, gegenseitiges Anstacheln und das Gefühl der Anonymität die sexuellen Übergriffe begünstigt haben. "Die Wahrnehmung des Umstandes, dass es zu einer Vielzahl sexueller Übergriffe gekommen war, dürfte die Bereitschaft der Täter zur Durchführung eigener sexuell-aggressiver Handlungen erhöht haben", steht im Bericht. Als "Enthemmungsfaktoren werden der besondere Anlass Silvester sowie Alkohol und Drogen genannt.
4. Mangelnde Polizeipräsenz
"Als weiterer wichtiger situationsbezogener Einflussfaktor ist das nach außen hin nicht sichtbare Eingreifen der Sicherheitsbehörden in Betracht zu ziehen", lautet eine weitere Erklärung. Forschungen hätten gezeigt, dass sich "die Einstellung von Probanden hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Begehung von Vergewaltigungen im Falle garantierter Straffreiheit verändert".
Immerhin ein Drittel der Versuchspersonen sei "unter der Voraussetzung garantierter formeller und informeller Nicht-Sanktion geneigt, sexuelle Handlungen mit Gewalt zu erzwingen". Für das Entstehen einer Straftat seien grundsätzlich ein Mensch, der tatbereit sei, ein geeignetes Opfer und die Schutzlosigkeit des Opfers notwendig. "Diese Rahmenbedingungen trafen in der Silvesternacht u. a. in der Form zu, dass die Unübersichtlichkeit der Situation auch Schutz vor Strafverfolgung gewährte", konstatiert der Bericht.
Tatsächlich muss die Bund-Länder-Gruppe eingestehen, dass es in den meisten Fällen nicht gelingen werde, die Täter eindeutig zu ermitteln oder Tatverdächtige zu überführen. Ihre Identität sei meist wegen einer erst kurzen Aufenthaltsdauer nur schwer festzustellen. Täterbeschreibungen seien zu ungenau, die Auflösung von Videoaufnahmen sei zu miserabel. Und außerdem gebe es nur eine kurze Speicherfrist von Funkzellendaten.

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