Eine vertrauliche BKA-Analyse zu den sexuellen Übergriffen in Köln besagt: Die mangelnde Polizeipräsenz dürfte die Täter ermutigt haben. Auch "Perspektivlosigkeit" wird als möglicher Auslöser genannt.
Mangelnde
Präsenz der Polizei und fehlender Druck auf Täter haben die hundertfachen
sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht von Köln und in
anderen Großstädten offenbar begünstigt. Dies geht aus einer vertraulichen
Analyse des Bundeskriminalamtes (BKA) hervor, die nun erstmals bekannt wurde
und der "Welt" vorliegt.
"Ein stark beeinflussender Faktor dürfte in der
Wahrnehmung der Täter bestanden haben, dass sie offenbar weitgehend keine
nachhaltig negative Strafverfolgung zu befürchten hatten", heißt es in dem
42-seitigen ersten Sachbestandsbericht der Bund-Länder-Gruppe
"Silvester" unter Federführung des BKA von Ende Februar dieses Jahres.
Der brisante Bericht ist als "Verschlusssache" klassifiziert und
trägt die Aufschrift "VS – Nur für den Dienstgebrauch". Das Dokument
dürfte dem Untersuchungsausschuss "Silvesternacht Köln" im Landtag
Nordrhein-Westfalen wichtige Hinweise bei der Aufklärungsarbeit liefern.
Vorgehen fast überall gleich
In diesem Bericht werden Gründe
aufgezählt, warum es in verschiedenen deutschen Städten zu Hunderten von
sexuellen Übergriffen, teilweise kombiniert mit Diebstählen, gekommen war. Die
Bund-Länder-Gruppe konzentrierte sich auf Köln sowie die am stärksten
betroffenen Städte Stuttgart, Frankfurt am Main,Hamburg und Düsseldorf. Als lokale Schwerpunkte nennt sie vor
allem die Innenstadtbereiche, "inkl. Eiserner Steg und das Bahnhofsviertel
(Frankfurt am Main), die Altstadt (Düsseldorf),
Vergnügungsviertel/Flaniermeilen (Hamburg) sowie der Bahnhofsbereich inkl.
Breslauer Platz und Domkloster (Köln)".
Meist bildeten sich Gruppen von
mehr als neun Tätern, in einem Fall waren es sogar 100 Männer. Das Vorgehen war
fast überall gleich. Einzelne Frauen wurden eingekreist und an Brüsten, Po und
zwischen den Beinen angefasst. In mehreren Fällen wurden Finger in die Vagina
eingeführt. In Hamburg wurden vor allem Frauen mit Rock zum Opfer; teilweise
wurden Strumpfhosen und Slips zerrissen. Bei den Delikten geht es um sexuelle
Nötigung, Vergewaltigung, Beleidigung sowie teilweise um Diebstahl überwiegend
von Mobiltelefonen.
Von den Ende Februar bekannten 62
Straftätern wurden "überwiegend Flüchtlinge/Asylbewerber und Personen mit
Migrationshintergrund" als Tatverdächtige identifiziert. Die 911 Opfer
seien "fast ausschließlich weiblich, mehrheitlich zwischen 18 und 24 Jahre
alt und besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit", heißt es im Bericht.
Gruppendynamische
Entwicklung
Nach den Erkenntnissen der
Ermittler gibt es keine belastbaren Hinweise für ein verabredetes Vorgehen.
Stattdessen geht man von einer gruppendynamischen Entwicklung aus, die nach
internationalen Forschungsergebnissen durch mehrere Faktoren begünstigt worden
sein könnte:
1. Taharrush gamea
In Deutschland hat es
Sexualdelikte aus Personengruppen heraus so noch nicht gegeben; allerdings sei
das Vorgehen in nordafrikanischen und asiatischen Ländern "stark
verbreitet" und stelle eine "Form der Alltagsgewalt gegen
Frauen" dar. Das Kriminalistische Institut des Bundeskriminalamtes hat
internationale Erkenntnisse beigesteuert, um das Phänomen von Sexualdelikten
durch Personengruppen im öffentlichen Raum zu erklären.
Demnach gibt es große Ähnlichkeiten zur Praxis "taharrush
gamea" oder "taharrusch
dschama'i" in Ägypten und dem "Eve teasing" in Indien, Pakistan
und Bangladesch. Nach internationalen Forschungen sei Gewalt an Frauen ein
allgemeines Problem, "aber vor allem in ökonomisch schwachen Ländern und
Krisengebieten verbreitet".
2. Ungewissheit über die Zukunft
Eine "andauernde
Perspektivlosigkeit" wegen fehlender Chancen auf Asyl und Arbeit könne
"als Auslöser für Frust und Aggression gewertet werden", heißt es im
Bericht. "Kriminalitätshemmende Faktoren wie die Integration auf dem Arbeitsmarkt
bzw. im Bildungssystem und die familiäre Eingebundenheit und Fürsorge kommen
bei dieser besonderen Tätergruppe kaum zum Tragen."
3. Gruppendruck
Es sei anzunehmen, dass
gruppendynamische Prozesse, gegenseitiges Anstacheln und das Gefühl der
Anonymität die sexuellen Übergriffe begünstigt haben. "Die Wahrnehmung des
Umstandes, dass es zu einer Vielzahl sexueller Übergriffe gekommen war, dürfte
die Bereitschaft der Täter zur Durchführung eigener sexuell-aggressiver
Handlungen erhöht haben", steht im Bericht. Als "Enthemmungsfaktoren
werden der besondere Anlass Silvester sowie Alkohol und Drogen genannt.
4.
Mangelnde Polizeipräsenz
"Als weiterer wichtiger
situationsbezogener Einflussfaktor ist das nach außen hin nicht sichtbare
Eingreifen der Sicherheitsbehörden in Betracht zu ziehen", lautet eine
weitere Erklärung. Forschungen hätten gezeigt, dass sich "die Einstellung
von Probanden hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Begehung von
Vergewaltigungen im Falle garantierter Straffreiheit verändert".
Immerhin ein Drittel der
Versuchspersonen sei "unter der Voraussetzung garantierter formeller und
informeller Nicht-Sanktion geneigt, sexuelle Handlungen mit Gewalt zu
erzwingen". Für das Entstehen einer Straftat seien grundsätzlich ein
Mensch, der tatbereit sei, ein geeignetes Opfer und die Schutzlosigkeit des
Opfers notwendig. "Diese Rahmenbedingungen trafen in der Silvesternacht u.
a. in der Form zu, dass die Unübersichtlichkeit der Situation auch Schutz vor
Strafverfolgung gewährte", konstatiert der Bericht.
Tatsächlich muss die
Bund-Länder-Gruppe eingestehen, dass es in den meisten Fällen nicht gelingen
werde, die Täter eindeutig zu ermitteln oder Tatverdächtige zu überführen. Ihre
Identität sei meist wegen einer erst kurzen Aufenthaltsdauer nur schwer
festzustellen. Täterbeschreibungen seien zu ungenau, die Auflösung von
Videoaufnahmen sei zu miserabel. Und außerdem gebe es nur eine kurze
Speicherfrist von Funkzellendaten.
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