Von Thorsten Jungholt
Die Bundesregierung aktualisiert ihre Gefahrenanalyse: Russlands Machtstreben, der Terrorismus und Virenangriffe zählen dazu – auch die eigene Migrationspolitik. Sogar die AfD spielt eine Rolle.
Es hat
lange gedauert. Zehn Jahre hat sich die Bundesregierung davor gedrückt, eine
grundsätzliche strategische Standortbestimmung vorzunehmen. Jetzt ist das neue
Weißbuch, also der oberste Leitfaden für die sicherheitspolitischen
Entscheidungen, kurz vor der Fertigstellung: Der vom Verteidigungsministerium
verfasste Entwurf wurde von den anderen für die Sicherheitspolitik relevanten
Ressorts redigiert. Noch vor der Sommerpause soll das 80 Seiten starke Werk vom
Kabinett beschlossen und vorgestellt werden.
Die letzte
Version des Weißbuchs datiert aus dem Jahr 2006. Die Regierung kommt deshalb
nicht ganz unerwartet zu der Erkenntnis, dass sich das sicherheitspolitische
Umfeld tiefgreifend gewandelt hat. Die internationale Ordnung sei im Umbruch,
Deutschland davon besonders betroffen. Alles sei "komplexer, volatiler
sowie dynamischer und damit immer schwieriger vorhersehbar geworden. Neuartige
Gefährdungen sind neben bereits bestehende getreten. Unterschiedlichste
Herausforderungen wirken in bislang nicht gekannter Gleichzeitigkeit und Dichte
auf Deutschland ein."
Das zehn
wichtigsten Sicherheitsrisiken sind:
1.
Terroristen sehen Deutschland als Anschlagsziel
Die
Herausforderung durch den transnationalen Terrorismus nimmt in der Tendenz zu,
stellt das Weißbuch fest. Der IS sei neben al-Qaida und deren
Regionalorganisationen getreten und habe sich in Teilen des Nahen Ostens mit
staatsähnlichen Strukturen festgesetzt. Deutschland sei "Feind und
Anschlagsziel" von Terroristen. Anschläge stellten die "unmittelbarste
Herausforderung für unsere Sicherheit dar".
Das Risiko nehme durch die
Radikalisierung von Sympathisanten und die Rückkehr sogenannter "foreign
fighters" nach Deutschland zu. Terroristen nutzten soziale Medien und
digitale Kommunikationswege, um Ressourcen zu generieren, Anhänger zu gewinnen,
ihre Propaganda zu verbreiten und Anschläge zu planen. Sie verfügten zunehmend
über die Möglichkeit, Ziele auch mit Cyberfähigkeiten anzugreifen oder
chemische, möglicherweise künftig auch biologische und radioaktive Substanzen
bei einem Anschlag einzusetzen.
2.
Virenangriffe bedrohen die digitale Kommunikation
Ein "Qualitätssprung in der
Bedrohungslage" wird im Cyberraum ausgemacht. Der umfasst alle durch das
Internet und digitale Datennetze verbundenen oder über Datenschnittstellen über
territoriale Grenzen hinweg weltweit erreichbaren Informationssysteme. Die
technische Weiterentwicklung von einfachen Viren hin zu komplexen, schwer
erkennbaren Attacken mache Staat, Gesellschaft und Wirtschaft besonders
verwundbar, heißt es im Weißbuch.
Die Auswirkungen
von Cyberangriffen könnten denen bewaffneter Auseinandersetzungen
entsprechen und in die "nicht virtuelle Welt eskalieren". Als
besondere Gefahr bewertet werden Angriffe auf kritische Infrastrukturen mit
schwerwiegenden Folgen für die Zivilbevölkerung (Wasser- oder
Energieversorgung) oder der Störung der militärischen Führungskommunikation.
3. Moskau verwischt Grenze
zwischen Krieg und Frieden
Russland ist kein Partner mehr, stellt die Regierung
fest, sondern ein Rivale. Durch seine auf der Krim und im Osten der Ukraine
zutage getretene Bereitschaft, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen
und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben, stelle
Russland die nach dem Kalten Krieg geschaffene europäische Friedensordnung
offen infrage.
Das habe tiefgreifende Folgen auch
für die Sicherheit Deutschlands. Russland
wende sich vom Westen ab, betone strategische Rivalität und erhöhe seine
militärischen Aktivitäten an den EU-Außengrenzen. Besondere Sorge bereitet der
Bundesregierung der zunehmende Einsatz "hybrider Instrumente zur gezielten
Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden", die "subversive
Unterminierung anderer Staaten".
Als besondere Herausforderung wird
die Nutzung der digitalen Kommunikation zur Beeinflussung der öffentlichen
Meinung benannt, die von der unerkannten gezielten Steuerung von Diskussionen
in sozialen Netzwerken bis hin zur Manipulation von Informationen auf
Nachrichtenportalen reiche. Fazit des Weißbuchs: "Ohne grundlegende
Kursänderung wird Russland somit auf absehbare Zeit eine Herausforderung für
die Sicherheit auf unserem Kontinent darstellen."
4.
Gescheiterte Staaten bieten Rückzugsräume
Politische, ethische, religiöse
und konfessionelle Auseinandersetzungen sowie Bürgerkriege prägen die
europäische Nachbarschaft in einem Krisenbogen von Nordafrika über die
Sahelzone, das Horn von Afrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach
Zentralasien.
Diese Instabilität sei "ein
unmittelbares Risiko für das Entstehen möglicher Rückzugsräume für weltweit
operierende Terrornetzwerke und kriminelle Schleuserstrukturen sowie für die
globale Energie- und Ressourcenversorgung und den internationalen
Handelsverkehr". Sie besitze somit zentrale Relevanz für Deutschlands
Sicherheit.
5.
Zuwanderung könnte außer Kontrolle geraten
Ob aufgrund von Bürgerkrieg,
Vertreibung, Armut oder Hunger: Schon jetzt verlassen Millionen von Menschen
weltweit ihre Heimat. Durch das globale Wohlstandsgefälle bestehe in den
kommenden Jahrzehnten ein "wachsendes Migrationspotenzial", stellt
das Weißbuch fest. Europa und besonders Deutschland seien für Migranten und
Flüchtlinge dabei attraktive Ziele.
Zwar sei Migration an sich kein
Sicherheitsrisiko für Deutschland, schreibt die Regierung. Im Gegenteil, die
Bundesrepublik sei aufgrund ihrer demografischen Entwicklung auf Zuwanderung
angewiesen. Die Einschränkung: "Dauerhafte Flüchtlingsbewegungen sowie
unkontrollierte und irreguläre Migration können jedoch Sicherheitsrisiken
sowohl für die unmittelbar betroffene Region als auch für Europa und
Deutschland mit sich bringen."
Aufnahmekraft und
Integrationsfähigkeit könnten überfordert werden, Instabilität die unmittelbare
Folge sein. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung bezeichnet ihre eigene
Politik des Jahres 2015 – unkontrollierte Migration – als Sicherheitsrisiko.
6. Radikaler Nationalismus spaltet die Gesellschaft
Die EU werde durch die
"Gleichzeitigkeit und die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, der
Flüchtlingskrise und der Instabilitäten an ihren Außengrenzen in besonderer
Weise gefordert", heißt es im Weißbuch. Durch die Akzentuierung nationaler
Belange in einigen Mitgliedsstaaten gerate das europäische Projekt unter Druck:
Die EU stehe vor der Herausforderung, "ihren inneren Zusammenhalt und die
Solidarität zwischen ihren Mitgliedsstaaten aufrechtzuerhalten".
Nur wenn es mit bedeutendem
Aufwand gelinge, "interne Bruchlinien zu überwinden, zentrifugalen Kräften
erfolgreich entgegenzuwirken und damit die innere Kohäsion und Einigkeit der EU
nachdrücklich zu stärken, wird diese auch in Zukunft stabilisierende Wirkung
auf unsere Nachbarn entfalten". Als Sicherheitsrisiko für Deutschland wird
diese Entwicklung im Weißbuch nicht bezeichnet.
Auch das Erstarken von Kräften der
Antiglobalisierung bleibt deskriptiv: Beschrieben wird ein
"introvertierter und oft radikaler Nationalismus, gewalttätiger
Extremismus und religiöser Fanatismus als Ausdruck von Identitäts- und
Legitimitätsdefiziten". Das mag daran liegen, dass es hierbei nicht um eine
äußere Bedrohung geht, sondern um eine innere: Teile der AfD lassen sich
problemlos unter die Formel "introvertierter Nationalismus"
subsumieren, andere Parteien in anderen EU-Ländern ebenfalls. Aber womöglich
würde diese Gefährdung der europäischen Friedensordnung den Rahmen eines
Weißbuchs tatsächlich sprengen.
7.
Aufrüstungsspirale dreht sich wieder
Machtansprüche wirtschaftlich
erstarkender Staaten schlagen sich in zunehmend in regionalen
Rüstungswettläufen nieder. Dieser Trend zur Aufrüstung könne die Stabilität des
internationalen Systems und mittelbar auch die Sicherheit Deutschlands
gefährden, heißt es im Weißbuch.
Das gelte für konventionelle
Bewaffnung, aber auch für neue Technologien, die von den geltenden
Rüstungskontrollregimen noch nicht erfasst werden. Auch mit der Proliferation
nuklearer, biologischer und chemischer Kampfmittel seien unkalkulierbare
Risiken verbunden.
8. Routen der
Rohstoffversorgung sind in Gefahr
Deutschlands Prosperität hängt
wesentlich von der ungehinderten Nutzung globaler Informations-,
Kommunikations-, Versorgungs-, Transport- und Handelslinien ab, auch von einer
gesicherten Rohstoff- und Energiezufuhr. Eine Unterbrechung des Zugangs zu
diesen Ressourcen berge erhebliche Risiken "für die Funktionsfähigkeit
unseres Staates und den Wohlstand".
Die genannten Güter werden vor
allem von terroristischen Anschlägen und Piraterie bedroht. Aber auch die
wachsenden Investitionen verschiedener Staaten in Fähigkeiten, "die
Dritten den Zugang zu bestimmten Regionen erschweren sollen (Anti-Access/Anti-Denial),
sind von besonderer Relevanz".
9. Klimawandel destabilisiert ganze
Staaten
Klimatische Veränderungen hätten
signifikante und existenzbedrohende Folgen für zahlreiche Staaten und ihre
Bevölkerungen, scheibt die Bundesregierung. Die Frage des Zugangs zu Wasser und
anderen limitierten Lebensgrundlagen werde für immer mehr Staaten und Regionen
zur existenziellen Gefährdung und gewinne deshalb an sicherheitspolitischer
Relevanz – auch für Deutschland. Denn Ressourcenknappheit und demografisches
Wachstum würden in Regionen fragiler Staatlichkeit zusätzlich destabilisierend
wirken und Kriege sowie Migration befördern.
10.
Bevölkerungswachstum erhöht Seuchenrisiko
Das Wachstum der Weltbevölkerung
in Verbindung mit zunehmender globaler Mobilität fördere die weltweite
Verbreitung von Krankheiten und Seuchen sowie den Ausbruch von Pandemien. Gefährliche
Erreger könnten auch nach Deutschland gelangen und die Bevölkerung gefährden.
Das bedeute immense Herausforderungen für unser Gesundheitssystem und
erhebliche wirtschaftliche Folgekosten.
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