Menschenrechtsgruppen haben Tausende Fälle von Folter und Misshandlungen in der Ostukraine dokumentiert. Niemand gebietet der Aggression unter russischem Einfluss Einhalt. Europa muss Haltung zeigen.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage dringen Tatsachen über die Folgen
der russische Aggression gegen die Ukraine an eine breite Öffentlichkeit, die
Putins Regime eigentlich in schwerste Bedrängnis bringen müssten. Was
allerdings nur der Fall wäre, würde der Westen aus diesen Fakten endlich
ernsthafte Konsequenzen ziehen und seine
leisetreterische Haltung aufgeben.
Der sensationelle Sieg der
ukrainischen Sängerin Jamala beim "European Song Contest" in
Stockholm vergangenes Wochenende hat ein Millionenpublikum mit dem Schicksal
der Krimtataren konfrontiert, die unter Stalin aus ihrer Heimat deportiert
wurden und erst Anfang der 1990er-Jahre dorthin zurückkehren durften. Seit der
gewaltsamen Annexion der Krim durch Putins Russland sind sie erneut massiver
Verfolgung und Entrechtung ausgesetzt, ohne dass dies in der europäischen
Öffentlichkeit nennenswerte Beachtung gefunden oder gar Empörung ausgelöst
hätte.
Obwohl ihr Siegersong "1944" ausdrücklich nicht die aktuellen
Zustände auf der Krim anspricht, hat die Krimtatarin Jamala die Aufmerksamkeit
in beeindruckender Weise darauf gelenkt. Putins Propagandisten haben das nur zu
gut verstanden und schäumen – wie üblich – über eine vermeintliche westliche
Verschwörung gegen Russland, die hinter Jamalas Triumph stecke.
Die Ukraine
ist kein rechtsfreier Raum
So gravierend wie die
Menschenrechtsverletzungen auf der okkupierten Krim sind die Untaten der ebenso
häufig wie irreführend als "Separatisten" bezeichneten bewaffneten
Statthalter Moskaus in der Ostukraine. Ein Verbund ukrainischer und
internationaler Menschenrechtsgruppen hat jetzt einen Bericht vorgelegt, der
über 4000 Fälle von Folter und schwersten Misshandlungen willkürlich festgesetzter
Gefangener in den russisch beherrschten "Volksrepubliken" Donezk und
Luhansk dokumentiert.
Auch auf ukrainischer Seite kam
es, allerdings in erheblich geringerem Umfang, zu Entführungen und
Misshandlungen. Solche Vorfälle spielen sich aber nicht im rechtsfreien Raum
ab. Die Ukraine hat die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs
anerkannt und gewährt Vertretern der Vereinten Nationen (UN) regelmäßig Zugang
zu ihren Haftanstalten.
Die Machthaber in den besetzten ostukrainischen Gebieten töten und
foltern hingegen unkontrolliert und unter Ausschluss jeglicher internationaler
Öffentlichkeit. Sie haben dafür, wie das Menschenrechtskommissariat der UN
bestätigt, keinerlei Strafverfolgung zu befürchten – nicht zuletzt, weil ihnen
das viel gepriesene Minsker
Abkommen eine generelle Amnestie als
Bestandteil einer anzustrebenden Friedenslösung in Aussicht stellt.
Einmal mehr zeigt sich daran, auf welch fatalen Fehlkonstruktionen
dieses Abkommen beruht. Es geht von der Fiktion aus, in der Ostukraine stünden
sich zwei innerukrainische "Konfliktparteien" gegenüber, zwischen
denen ein gerechter Ausgleich zu schaffen sei. Ausgeblendet wird, dass es sich
bei den "prorussischen
Separatisten" – einige ihrer politischen Anführer haben bei
Folterungen persönlich Hand angelegt – in Wahrheit um kriminelle und
rechtsextremistische Handlanger der russischen militärischen Invasion
ukrainischen Staatsgebiets handelt.
Offiziell
sind Russlands Truppen gar nicht da
Russlands Präsident wird dem
Abkommen gemäß vom Westen nicht als Verursacher des Krieges benannt, sondern
als wohlwollender Partner bei den Bemühungen um dessen Beendigung anerkannt.
Bis heute musste Russland nicht einmal die Präsenz russischer Truppen in der
Ukraine zugeben – und macht demgemäß keinerlei Anstalten, sie zurückzuziehen.
Der Nachschub an russischen Waffen und Kämpfern in die ostukrainischen
"Volksrepubliken" hält vielmehr unvermindert an.
Moskau ist
daher nicht nur in vollem Umfang für den Fortgang des Krieges, sondern auch für
die Menschenrechtsverletzungen durch seine ostukrainischen Marionetten
verantwortlich. Statt den Kreml deswegen zur Rede zu stellen, klammern sich die
westlichen Regierungen jedoch weiterhin an die Erfolgsaussichten eines
Abkommens, das dem Aggressor längst nur noch als Deckmantel dafür dient, seine
Herrschaft über das einem souveränen Nachbarstaat geraubte Territorium zu
zementieren.
Dass unter russischen Bajonetten
in diesen Gebieten jene freien, international überwachten Wahlen stattfinden
könnten, die das Minsker Abkommen als Bedingung einer friedlichen Beilegung des
Konflikts vorsieht, kann wohl kein westlicher Politiker mehr ernsthaft glauben.
Doch statt daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, den Druck auf Moskau deutlich
zu erhöhen, bedrängt der Westen zunehmend die ukrainische Führung, einer
faktischen Abtretung der besetzten Teile seines Staatsgebiets zuzustimmen.
Europa muss
der Ukraine den Rücken stärken
In der deutschen Öffentlichkeit
wächst unterdessen die Bereitschaft, die Sanktionen gegen Russland ohne
entsprechende Gegenleistungen Moskaus aufzuheben. Dies aber käme der Absegnung
nicht nur einer militärischen Aggression, sondern auch schwerster
Menschenrechtsverletzungen mitten in Europa gleich. Die Ukraine im Stich zu
lassen, würde sich für Europa bitter rächen.
Es wäre damit ein Präzedenzfall
geschaffen, der weiteren willkürlichen, gewaltsamen Anschlägen gegen die
Grundlagen der europäischen Friedensordnung Tür und Tor öffnet. Im eigenen
Interesse ist es für Europa höchste Zeit, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf
gegen die russischen Invasoren viel entschiedener den Rücken zu stärken.
Nicht weniger
dringend ist es indessen, die Unterstützung für die jungen, proeuropäischenReformkräfte im Lande deutlich zu
verstärken. Denn in der Ukraine bahnt sich die Entscheidungsschlacht zwischen
ihnen und den Kräften an, die auf den alten korrupten, oligarchischen
Strukturen beharren. Sollten Letztere obsiegen, würde dies den finalen
Staatsverfall und einen massiven Aufstieg ultranationalistischer Demagogen zur
Folge haben. Doch aussichtslos ist der Kampf für die demokratische Erneuerung
der Ukraine keineswegs.
Manche Reformanstrengung seit dem Maidan-Aufstand ist in Ansätzen
stecken geblieben, andere jedoch tragen Früchte und verändern das Gesicht des
Landes. So blamiert die Tatsache, dass die Ukraine mit Wolodymyr
Hrojsmann nun einen jüdischen
Ministerpräsidenten hat, endgültig die Moskauer Propagandalüge, in Kiew
regierten verkappte Faschisten und Antisemiten. Wir Europäer dürfen nicht
zulassen, dass die Hoffnungskeime der neuen Ukraine erstickt werden. Hängt an
ihnen doch unsere eigene Hoffnung auf eine freiheitliche Zukunft des
Kontinents.
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