Friday, May 20, 2016

Folter in Putins Namen – und Europa schaut zu


Menschenrechtsgruppen haben Tausende Fälle von Folter und Misshandlungen in der Ostukraine dokumentiert. Niemand gebietet der Aggression unter russischem Einfluss Einhalt. Europa muss Haltung zeigen.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage dringen Tatsachen über die Folgen der russische Aggression gegen die Ukraine an eine breite Öffentlichkeit, die Putins Regime eigentlich in schwerste Bedrängnis bringen müssten. Was allerdings nur der Fall wäre, würde der Westen aus diesen Fakten endlich ernsthafte Konsequenzen ziehen und seine leisetreterische Haltung aufgeben.

Der sensationelle Sieg der ukrainischen Sängerin Jamala beim "European Song Contest" in Stockholm vergangenes Wochenende hat ein Millionenpublikum mit dem Schicksal der Krimtataren konfrontiert, die unter Stalin aus ihrer Heimat deportiert wurden und erst Anfang der 1990er-Jahre dorthin zurückkehren durften. Seit der gewaltsamen Annexion der Krim durch Putins Russland sind sie erneut massiver Verfolgung und Entrechtung ausgesetzt, ohne dass dies in der europäischen Öffentlichkeit nennenswerte Beachtung gefunden oder gar Empörung ausgelöst hätte.

Obwohl ihr Siegersong "1944" ausdrücklich nicht die aktuellen Zustände auf der Krim anspricht, hat die Krimtatarin Jamala die Aufmerksamkeit in beeindruckender Weise darauf gelenkt. Putins Propagandisten haben das nur zu gut verstanden und schäumen – wie üblich – über eine vermeintliche westliche Verschwörung gegen Russland, die hinter Jamalas Triumph stecke.

Die Ukraine ist kein rechtsfreier Raum

So gravierend wie die Menschenrechtsverletzungen auf der okkupierten Krim sind die Untaten der ebenso häufig wie irreführend als "Separatisten" bezeichneten bewaffneten Statthalter Moskaus in der Ostukraine. Ein Verbund ukrainischer und internationaler Menschenrechtsgruppen hat jetzt einen Bericht vorgelegt, der über 4000 Fälle von Folter und schwersten Misshandlungen willkürlich festgesetzter Gefangener in den russisch beherrschten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk dokumentiert.
Auch auf ukrainischer Seite kam es, allerdings in erheblich geringerem Umfang, zu Entführungen und Misshandlungen. Solche Vorfälle spielen sich aber nicht im rechtsfreien Raum ab. Die Ukraine hat die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs anerkannt und gewährt Vertretern der Vereinten Nationen (UN) regelmäßig Zugang zu ihren Haftanstalten.
Die Machthaber in den besetzten ostukrainischen Gebieten töten und foltern hingegen unkontrolliert und unter Ausschluss jeglicher internationaler Öffentlichkeit. Sie haben dafür, wie das Menschenrechtskommissariat der UN bestätigt, keinerlei Strafverfolgung zu befürchten – nicht zuletzt, weil ihnen das viel gepriesene Minsker Abkommen eine generelle Amnestie als Bestandteil einer anzustrebenden Friedenslösung in Aussicht stellt.

Einmal mehr zeigt sich daran, auf welch fatalen Fehlkonstruktionen dieses Abkommen beruht. Es geht von der Fiktion aus, in der Ostukraine stünden sich zwei innerukrainische "Konfliktparteien" gegenüber, zwischen denen ein gerechter Ausgleich zu schaffen sei. Ausgeblendet wird, dass es sich bei den "prorussischen Separatisten" – einige ihrer politischen Anführer haben bei Folterungen persönlich Hand angelegt – in Wahrheit um kriminelle und rechtsextremistische Handlanger der russischen militärischen Invasion ukrainischen Staatsgebiets handelt.

Offiziell sind Russlands Truppen gar nicht da

Russlands Präsident wird dem Abkommen gemäß vom Westen nicht als Verursacher des Krieges benannt, sondern als wohlwollender Partner bei den Bemühungen um dessen Beendigung anerkannt. Bis heute musste Russland nicht einmal die Präsenz russischer Truppen in der Ukraine zugeben – und macht demgemäß keinerlei Anstalten, sie zurückzuziehen. Der Nachschub an russischen Waffen und Kämpfern in die ostukrainischen "Volksrepubliken" hält vielmehr unvermindert an.
Moskau ist daher nicht nur in vollem Umfang für den Fortgang des Krieges, sondern auch für die Menschenrechtsverletzungen durch seine ostukrainischen Marionetten verantwortlich. Statt den Kreml deswegen zur Rede zu stellen, klammern sich die westlichen Regierungen jedoch weiterhin an die Erfolgsaussichten eines Abkommens, das dem Aggressor längst nur noch als Deckmantel dafür dient, seine Herrschaft über das einem souveränen Nachbarstaat geraubte Territorium zu zementieren.

Dass unter russischen Bajonetten in diesen Gebieten jene freien, international überwachten Wahlen stattfinden könnten, die das Minsker Abkommen als Bedingung einer friedlichen Beilegung des Konflikts vorsieht, kann wohl kein westlicher Politiker mehr ernsthaft glauben. Doch statt daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, den Druck auf Moskau deutlich zu erhöhen, bedrängt der Westen zunehmend die ukrainische Führung, einer faktischen Abtretung der besetzten Teile seines Staatsgebiets zuzustimmen.

Europa muss der Ukraine den Rücken stärken

In der deutschen Öffentlichkeit wächst unterdessen die Bereitschaft, die Sanktionen gegen Russland ohne entsprechende Gegenleistungen Moskaus aufzuheben. Dies aber käme der Absegnung nicht nur einer militärischen Aggression, sondern auch schwerster Menschenrechtsverletzungen mitten in Europa gleich. Die Ukraine im Stich zu lassen, würde sich für Europa bitter rächen.
Es wäre damit ein Präzedenzfall geschaffen, der weiteren willkürlichen, gewaltsamen Anschlägen gegen die Grundlagen der europäischen Friedensordnung Tür und Tor öffnet. Im eigenen Interesse ist es für Europa höchste Zeit, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren viel entschiedener den Rücken zu stärken.
Nicht weniger dringend ist es indessen, die Unterstützung für die jungen, proeuropäischenReformkräfte im Lande deutlich zu verstärken. Denn in der Ukraine bahnt sich die Entscheidungsschlacht zwischen ihnen und den Kräften an, die auf den alten korrupten, oligarchischen Strukturen beharren. Sollten Letztere obsiegen, würde dies den finalen Staatsverfall und einen massiven Aufstieg ultranationalistischer Demagogen zur Folge haben. Doch aussichtslos ist der Kampf für die demokratische Erneuerung der Ukraine keineswegs.

Manche Reformanstrengung seit dem Maidan-Aufstand ist in Ansätzen stecken geblieben, andere jedoch tragen Früchte und verändern das Gesicht des Landes. So blamiert die Tatsache, dass die Ukraine mit Wolodymyr Hrojsmann nun einen jüdischen Ministerpräsidenten hat, endgültig die Moskauer Propagandalüge, in Kiew regierten verkappte Faschisten und Antisemiten. Wir Europäer dürfen nicht zulassen, dass die Hoffnungskeime der neuen Ukraine erstickt werden. Hängt an ihnen doch unsere eigene Hoffnung auf eine freiheitliche Zukunft des Kontinents.


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