Die russische Führung wittert überall Verschwörungen. Fast alle aus Moskauer Sicht negativen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte werden zum Teil eines „hybriden Krieges“ des Westens erklärt.
von FRIEDRICH SCHMIDT, MOSKAU
In einem Punkt sind Russlands sonntagabendliche „Nachrichten der Woche“ mit Dmitrij Kisseljow stets zuverlässig: Sie zeigen, was die Führung das Volk glauben machen will. Jüngst hielt der Moderator einen „interessanten Ausweis“ in die Kamera: Adler, Hakenkreuz, Siegel. Das Foto dazu zeigte den Bremer SS-Obersturmbannführer Walter Schmidt (1917 bis 2000).
Der angebliche Pass führte aber einen, sic, ukrainischen „Hauptschturmführer Roman Koli“ als Inhaber an und bot ein „Hitler-Zitat, schwarz auf weiß“, wie Kisseljow erläuterte. „Wir haben dann gewinnen, wenn Russland Ukrainer und Weißrussen glauben, dass sie nicht russischen“, stand da in der Schrift „Old English Five“ moderner Textverarbeitungsprogramme.
Den für Online-Übersetzungsprogramme typischen sprachlichen Missgriff, der schon die deutsche Rechtschreibreform berücksichtigt, gab Kisseljow in korrektem Russisch wieder: „Wir haben Russland dann besiegt, wenn Ukrainer und Weißrussen glauben, dass sie keine Russen sind.“ Der Brückenschlag zu den Feinden von heute folgte prompt: Er persönlich, sagte der Moderator, sei „weit entfernt von urtümlichem Antiamerikanismus, aber so, wie die USA jetzt mit der Ukraine verfahren, deckt sich das absolut mit Hitlers Vermächtnis.“
Die Posse wäre zu vernachlässigen, stünde sie nicht in ihrer Plumpheit für eine Reihe jüngster Äußerungen russischer Staatsdiener, die jenseits von mantrahaften Schuldzuweisungen gen Westen und Forderungen nach mehr Repression nichts zu bieten haben.
„Pseudodemokratische Spiele“
Besondere Aufmerksamkeit erregte vor kurzem der Leiter des Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin. Er veröffentlichte einen Gastbeitrag in der Zeitschrift „Kommersant Wlast“, in dem er Russland als Opfer eines „hybriden Krieges“ der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten darstellt.
Fast alle aus Moskauer Sicht negativen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte dienten ihm als Beispiele: Zerfall der Sowjetunion; Ölpreisverfall; Vorwürfe im Fall des Abschusses von Flug MH17 über der Ostukraine. Als Gegenmaßnahme im „Informationskrieg“ schlug Bastrykin vor, vor den Wahlen im September „pseudodemokratische Spiele“ zu beenden, plädierte für Internetkontrolle nach chinesischem Vorbild .
Bastrykin wollte seinen Beitrag offenkundig als programmatisch verstanden wissen, in der Nachfolge prominenter Mitglieder des Machtapparats. Daraus sprach vor allem der Wille, Präsident Wladimir Putin seine Loyalität zu demonstrieren. Das erscheint geboten, weil Putin gerade die Schaffung der Nationalgarde angeordnet hat, die das Machtgefüge in Moskau neu ordnet.
Furcht vor Unruhen
Besonders leidet das Innenministerium. Von dort hieß es jetzt, man wolle akustische Systeme kaufen, um Teilnehmer unerlaubter Versammlungen mit Lärm zu zerstreuen. Die Furcht vor Unruhen, die der Westen orchestriere, wird täglich beschworen, was eigentlich an der unter Putin zelebrierten Stabilität und „Konsolidierung“ der Gesellschaft zweifeln ließe. Am Freitag war die Reihe an Walerij Sorkin, dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichtshofs. Er warnte vor Umsturzversuchen mit Hilfe „empörter Bürger“ und „äußerer Kräfte“.
Bastrykins Vorstoß freilich muss wohl als Misserfolg gelten. Putins Sprecher, Dmitrij Peskow, sagte, er wisse nicht, ob der Präsident die Zeit gefunden habe, „sich mit dieser Publikation bekannt zu machen“. Außerdem hat die Generalstaatsanwaltschaft nun ein Gesuch eines Bürgers aus Nowosibirsk zu prüfen, der in Bastrykins Forderung nach einer staatlichen „Ideologie“ einen Verfassungsverstoß sieht.
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