Ruhe in der Ukraine, Druck in Syrien. Russlands
Präsident sendet rätselhafte Signale. Sucht er einen Weg aus der Isolation?
Oder einen neuen Schauplatz, um Stärke zu zeigen?
Der erste Schultag ist in der Ukraine wie in
vielen Ländern der Erde ein besonderer Moment. Weiße Hemden, dunkle Kleider -
festlich sollte es zugehen, wenn auf die Kinder der Ernst des Lebens wartet. Im
Osten des Landes entpuppte sich der erste Schultag als ein doppelter
Freudentag. Seit diesem 1.
September schweigen nämlich die Waffen auf
beiden Seiten der Demarkationslinie. Gefechte und Scharmützel, bis dahin
Routine, waren plötzlich vorbei. Separatisten wie ukrainische Verbände hielten
sich an die Abmachung, die zuvor von der OSZE ausgehandelt worden war.
Besonders bemerkenswert an diesem
Waffenstillstand: Er hält bis heute. Analysten in den westlichen
Staatskanzleien reiben sich verwundert die Augen und suchen nach Deutungen.
Warum ausgerechnet jetzt? Als am 4. September im Weißen Haus in Washington das
Telefon klingelte, fügten sich ein paar Puzzleteile. Wladimir Putin bat um ein Gespräch. Sechs Wochen vorher hatte Barack Obama noch von
sich aus im Kreml angerufen und dem russischen Präsidenten für seinen Beitrag
bei den Iran-Verhandlungen gedankt. Nun hatte Putin
ein Anliegen.
Die russische Bitte: Obama solle eine Anti-Terror-Initiative
Moskaus gegen den IS in Syrien unterstützen. Zeitgleich ging im Weißen Haus
eine zweite Bitte ein: Der russische Präsident wolle den US-Präsidenten am
Rande der Generaldebatte der Vereinten Nationen treffen, des alljährlichen
Klassentreffens der Staatenlenker, das am 28. September beginnt.
Seit dem Telefonat überschlagen sich die
Ereignisse. Und sowohl in Washington als auch bei den amerikanischen
Verbündeten wird gerätselt, was Putin eigentlich beabsichtigt. Sicher ist aber:
Zwischen dem Waffenstillstand und der Syrien-Initiative gibt es einen
Zusammenhang. Russland, das immer für die Separatisten verhandelt und deren
Schritte zu steuern vermag, hat auch diesmal seinen Einfluss deutlich gemacht.
Man kann es als Machtdemonstration verstehen, wenn plötzlich die Waffen
schweigen - oder als Geste des Entgegenkommens. Was Putin damit sagen wollen
könnte: Wir sind zur Kooperation bereit - seid ihr es auch?
Putinologie hat seit dem vergangenen Jahr
Hochkonjunktur, und als beste Deuterin des russischen Präsidenten gilt die
deutsche Kanzlerin, die in der Ukraine-Krise federführend verhandelt hat. Bei
Angela Merkel gingen dann auch die Telefonate der Verbündeten mit der simplen
Frage ein: Was tun?
Während der Westen über die richtige Strategie
berät, zeigt Putin, dass er es nicht bei einem Telefonat belässt. Russland
verlegte in den vergangenen Tagen Kriegsgerät und Material nach Syrien, es rang
mit dem Westen um Überflugrechte, sein Außenminister Sergej Lawrow telefonierte
mit US-Außenminister John Kerry. Der Druck steigt also. Aber wie wird er
sich entladen?
Putins wahre Absichten liegen im Dunklen. Nach
der Ukraine-Erfahrung des vergangenen Jahres gibt es niemanden in den
westlichen Regierungszentralen, der den Präsidenten lediglich beim Wort nimmt.
In der einfachsten Lesart will Putin mit seiner Offerte den Weg zurück in den
Kreis der Staatenlenker finden. Die Isolation setzt seinem Land zu. Putin
könnte also darauf abzielen, vom US-Präsidenten auf Augenhöhe wahrgenommen zu
werden. Deshalb ein Treffen in New York.
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