Der angebliche
Vorschlag aus Kiew klingt vorteilhaft für beide Seiten: Moskau nimmt einfach
das Donbass und lässt die Rest-Ukraine in Ruhe. In Wahrheit aber will Putin das
unrentable Kohle- und Stahlrevier gar nicht haben. Der Herrscher des Kreml
verfolgt ganz andere Pläne.
Der Gedanke kam aus Moskau. Als Präsident Wladimir
Putin dort am 16. April das Schauspiel seiner jährlichen Fernsehsprechstunde
zelebrierte, lautete eine der ausgewählten Fragen, die ihn aus der Tiefe seines
großen Landes erreichten, ob es denn stimme, dass Petro Poroschenko, sein
ukrainisches Gegenüber, ihm einmal in einer tiefen Verhandlungsnacht ein
überraschendes Angebot gemacht habe: „Nimm das Donbass“, habe der ukrainische
Präsident angeblich gesagt. „Ich brauche es nicht.“
Putin hat das postwendend verneint, doch die Legende
war lanciert: Die Ukraine, die im vergangenen März schon die Halbinsel Krim an
getarnte russische Interventionstruppen verloren hat und die jetzt verzweifelt
gegen von Russland unterstützte Separatisten im Industriegebiet Donbass kämpft,
habe im Grunde das Interesse an dem mittlerweile weitgehend zerschossenen
Gruben- und Hüttenrevier verloren. Die implizite Folgerung: Weil Kiew das
Donbass längst aufgegeben hat, hat es auch kein moralisches Recht mehr, für die
Menschen dort zu sprechen. Die eigentlichen Vertreter der Bevölkerung sind die
Führer der separatistischen „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk, die seit
dem vergangenen Jahr dort ohne internationale Anerkennung, aber mit
brüderlicher Hilfe aus Russland die Macht in den Händen halten.
Die These scheint aufs Erste schlüssig. Eine
vertrauliche Studie der von der Bundesregierung finanzierten „Deutschen
Beratergruppe bei der ukrainischen Regierung“ hat kürzlich ergeben, dass das
Donbass schon vor dem Krieg der Ukraine nichts brachte, sondern ein teurer
Kostgänger der Kiewer Regierung war. Überdurchschnittliche Renten und vor allem
hohe Subventionen für die veralteten, aus den Dinosaurierzeiten der
sowjetischen Fünfjahrespläne stammenden Kohlegruben der Region kosteten die
übrige Ukraine weit mehr, als an Steuern und Sozialbeiträgen aus der Region
zurückfloss. Durch den Krieg zusätzlich ruiniert, wäre das ohnehin
hochdefizitäre Gebiet für jeden, der es künftig besäße, ein Mühlstein am Hals.
„Nimm das Donbass, und dann gib Ruhe“
Auch politisch scheint der Besitz des Donbass für die
Kiewer Elite nicht attraktiv. Die Gegend ist immer schon die Hochburg jenes
mafiösen Netzes aus Politik, Industrie und Kriminalität gewesen, das man in
Osteuropa „Oligarchenherrschaft“ nennt, und der gewesene Präsident Viktor
Janukowitsch, der 2014 vor der Revolution des „Euromajdan“ nach Russland floh,
war im Kern nichts anderes als der politische Exekutor der Donbass-Clans -
ausgesendet, den Rest des Landes im Namen der heimischen Stahl- und Grubenbarone
zu plündern. Da zugleich von den Tischen der Oligarchen immer ein paar Krumen
für die Malocher der Bergwerke herabfielen, hat die Bevölkerung dort stets
gegen die europäisch orientierten Reformparteien aus der restlichen Ukraine
gestimmt - für die heutige prowestliche Führung ein weiterer hypothetischer
Grund für Poroschenkos angebliches „Nimm es, ich brauche es nicht“.
Was ist da dran? Natürlich gibt es in der ukrainischen
Regierung keine Bestätigung für den vergifteten Satz des Präsidenten. Westliche
Fachleute bestätigen aber, dass sie in Kiew selbst, aber auch in anderen
europäischen Hauptstädten immer wieder auf solche Gedanken stoßen. Das Modell
heißt „Transnistrisierung“ und orientiert sich an der in den neunziger Jahren
mit Moskauer Hilfe von Moldau abgespaltenen „Republik“ Transnistrien. Dort ist
es seither zwar nicht gelungen, den Konflikt zu lösen, aber doch, einen
halbwegs verlässlichen Schwebezustand ohne Blutvergießen zu sichern.
Könnte nun nicht auch im Donbass so ein „Frozen
Conflict“ an die Stelle des heutigen Krieges treten? Nach dieser Konstruktion
würden die von Moskau gesteuerten „Volksrepubliken“ der Separatisten im Donbass
auf absehbare Zeit de facto bestehen bleiben. Als Gegenleistung würde Russland
den Konflikt nicht weiter vorantreiben, das Eroberungsprojekt „Noworossja“
würde begraben, und das Sterben würde aufhören. Die Ukraine könnte sich dem
Wiederaufbau zuwenden.
Diese Idee des „Fort mit Schaden“ wird nun zwar
tatsächlich hin und her gewendet. Eingeweihte bestätigen aber, dass sie trotz
gewisser Plausibilität offenbar keine Chance hat, zur Generallinie Präsident
Poroschenkos zu werden. Warum nicht? Ein Vertreter des ukrainischen
Außenministeriums bietet im Gespräch eine Erklärung, die ebenso knapp ist wie
klar: Ein Deal mit Putin nach dem Motto „Nimm das Donbass, und dann gib Ruhe“
werde ganz einfach deswegen nicht funktionieren, weil Putin keinen der beiden
Teile dieses Vorschlags wolle. Weder wolle er seiner ohnehin strapazierten
Staatskasse die Kosten für einen Satellitenstaat im zertrümmerten Donbass
aufbürden, noch denke er auch nur im Traum daran, „Ruhe zu geben“.
Russland will seine Macht über
die Ukraine stärken
Im Gegenteil: Nach der Überzeugung ukrainischer
Außenpolitiker ist Putins Ziel vielmehr, den Konflikt endlos am Köcheln zu
halten, um die Ukraine in den Ruin zu treiben und ihren Westkurs zu
torpedieren. Die russische „Verschwörungstheorie“, der zufolge Poroschenko
bereit sein könnte, das Donbass zu opfern, ziele nur darauf, den Präsidenten zu
diskreditieren. Regierungsferne Beobachter in Kiew sehen das ähnlich. Das
Modell „Frozen Conflict“ werde nicht funktionieren, weil Russland im Donbass
eben kein kontrollierbares „Transnistrien“ wolle, sondern ein hochexplosives,
tödliches „Gaza“, an dem die Ukraine zugrunde gehe.
Was also tun? Im Kiewer Außenministerium stellt man
den „Minsker Prozess“, auf den die Präsidenten Frankreichs, Russlands und der
Ukraine sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel sich am 12. Februar geeinigt haben,
als die einzige Möglichkeit dar, den Konflikt unter Kontrolle zu bringen.
„Minsk“ ist ein kompliziertes Dokument, doch sehr verkürzt gesagt, ist es im
Kern ein einfacher Handel: Russland eröffnet in den Abschnitten über Waffenruhe
und Demilitarisierung die Aussicht auf ein Ende seiner militärischen Erpressungsstrategie,
und Kiew verspricht dafür im „politischen Teil“ eine Verfassungsreform, eine
Dezentralisierung des Landes und ein Sonderstatut für die Separatistengebiete.
Die entsprechenden Passagen sind bewusst diffus
formuliert, aber je nach Ausdeutung eröffnen sie Moskau die Aussicht, die
Ukraine durch Föderalisierung zu einem „failed State“ zu machen und seinen
Marionetten im Osten eine „Vetobefugnis“ in Kiew zu verschaffen. Das Ziel
dieser Taktik glaubt man in Kiew klar erkannt zu haben: „Russland möchte auf
diesem Weg die Hegemonie über die Ukraine sichern und jede weitere Annäherung
an die EU und an die Nato verhindern“, heißt es im Außenministerium.
Dass Poroschenko trotz dieser Gefahren nach intensivem
Zureden seiner westlichen Partner in Minsk diesen Weg erst einmal mitgeht, hat
einen einfachen Grund: In Kiew und im Westen hofft man, dass Russland mit
diesem Handel dazu gebracht werden könnte, seine imperialen Pläne zumindest
nicht mehr wie bisher „militärisch“ zu voranzutreiben, sondern nun eben nur
noch „politisch“. Für Putin hätte das den Charme, dass sich ohne Kanonendonner
der Konflikt mit dem Westen und das damit verbundene Sanktionsregime vielleicht
beenden ließen. Für die Europäer ergäbe sich der Vorteil, dass sie nicht mehr
mit einer entschärften Granate an ihrer Ostgrenze leben müssten.
Zwei bis drei tote Soldaten am Tag
Doch noch ist es nicht so weit. Die Abmachungen von
Minsk gleichen einem Malbuch für Kinder: Nur Umrisse sind vorgezeichnet, die
Details der Dezentralisierung und der Verfassungsreform in der Ukraine müssen
mühsam Punkt für Punkt abgestimmt werden. Ob eine zerstörerische Parzellierung
nach russischem Design das Ergebnis sein wird oder ein starker, wenn auch
„dezentralisierter“ Nationalstaat, wie er Poroschenko vorschwebt, ist noch
keineswegs klar. Weil die Ukrainer den Braten gerochen haben und alles daran
setzen, die in Minsk verabredeten Reformen so zu verwirklichen, dass Moskaus
Einfluss begrenzt bleibt, sind permanente Krisen des Verhandlungsprozesses für
die nächsten Monate so gut wie sicher.
Russland wird in solchen Situationen dank seiner
militärischen Übermacht immer die Möglichkeit haben, den Druck des Krieges
wieder hochzufahren. Dann werden die westlichen Beobachter im Donbass wieder
Artilleriegefechte und Tote melden. Der Westen kann regieren, indem er seine
Sanktionen je nach Lage steigert oder reduziert.
Aus Moskauer Sicht wird es deshalb darauf ankommen,
immer jeweils genug Blut zu vergießen, um zu verhindern, dass die Ukraine
wirtschaftlich und politisch genest, und um Kiew zu den geforderten
„destruktiven Reformen“ zu zwingen. Aber dann doch auch wieder so wenig Blut,
dass der Westen seine Strafmaßnahmen nicht verschärft. Die vergangenen Wochen
haben gezeigt, dass eine Verlustquote von zwei bis drei Soldaten am Tag diesem
Ziel aus Moskauer Sicht offenbar besonders gut dient.
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