Konrad Schuller
Eigentlich prowestliche Politiker in der Ukraine
werfen Deutschland und Frankreich vor, den Einfluss Moskaus in ihrem Land zu
verewigen. So werde die reformierte Verfassung „zur Waffe der Russen“. Was ist
da dran?
Der Albtraum ukrainischer Politiker sieht etwa so aus:
Der Westen, zermürbt von Krisen, Kriegen und Flüchtlingsströmen, beschließt,
zumindest einen Gefahrenherd aus der Welt zu schaffen und einigt sich
stillschweigend mit Russland: Die Unterstützung für die Ukraine wird unmerklich
heruntergefahren, die von Moskau beanspruchte Hegemonie unter der Hand
anerkannt. Dafür hilft Präsident Wladimir Putin dann an den anderen Brandherden: Syrien, Iran,
Korea.
Besonders lebhaft
hat unlängst Valerij Tschalij solche Sorgen formuliert, bis vor kurzem der
außenpolitische Chefberater Präsident Petro Poroschenkos und neuerdings
Botschafter der Ukraine in Washington. In einem Interview hat er dem Westen
vorgeworfen, den Friedensplan von Minsk, den die Präsidenten Frankreichs, der
Ukraine und Russlands sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar
ausgehandelt hatten, stets zu Lasten der Ukraine auszulegen. Obwohl Moskau
nicht im Traum daran denke, seinen Verpflichtungen nachzukommen, und etwa seine
Soldaten aus dem umkämpften Industriegebiet Donbass abzuziehen, verlangten die
Europäer beharrlich von der Ukraine, alle ihre in Minsk eingegangenen
Verpflichtungen zu erfüllen. Dazu gehört unter anderem die Gewährung eines
Sonderstatuts an die prorussischen Separatistengebiete im Osten -
einschließlich einer eigenen „Volksmiliz“, wirtschaftlicher Förderung und
regionaler Exklusivbeziehungen zu Russland.
„Von unseren Verbündeten aufgezwungen“
Dieser
Vorwurf an den Westen ist jetzt von der stellvertretenden Präsidentin des
ukrainischen Parlaments, Oksana Syroid, einer prominenten Vertreterin der
prowestlichen Bürgerbewegung, noch einmal zugespitzt worden. Nach ihrer
Darstellung schreckt der Westen in seiner vorauseilenden Rücksichtnahme auf
Moskau nicht einmal davor zurück, massiv auf die gerade im Gang befindliche
Reform der ukrainischen Verfassung Einfluss zu nehmen. Im Gespräch mit der
F.A.Z. hat Syroid, die im Parlament zur proeuropäischen Fraktion „Selbsthilfe“
(Samopomytsch) gehört, dabei vor allem Merkel und den französischen
Staatspräsidenten François Hollande kritisiert:
am 14. Juli, unmittelbar vor der ersten Abstimmung über die ansonsten von
Europa hoch gelobte Verfassungsreform zur „Dezentralisierung“ der Ukraine,
hätten die beiden den Parlamentspräsidenten Wolodymyr Hrojsman, einen
Vertrauten Poroschenkos, telefonisch bedrängt, zusätzliche Bestimmungen in den
Verfassungstext einzuführen, die „ausschließlich Russlands Interessen“ dienten.
Tags darauf sei der Reformentwurf dann tatsächlich entsprechend ergänzt worden,
und einen weiteren Tag später habe das Parlament in einer ersten von mehreren
nötigen Abstimmungen das veränderte Papier gutgeheißen. „Das ist uns von
unseren Verbündeten aufgezwungen worden“, sagt Syroid nun. „Diese Veränderung
in letzter Minute geht auf die Anrufe Merkels und Hollandes zurück.“
Die Veränderung im geplanten Verfassungstext, die
Syroid so in Zorn versetzt, erscheint dabei auf den ersten Blick harmlos. Unter
Punkt 18 heißt es schlicht und scheinbar nichtssagend: „Die Gestalt der lokalen
Selbstverwaltung in bestimmten Kreisen der Gebiete Donezk und Luhansk werden in
einem gesonderten Gesetz festgelegt.“ Wieso diese Bestimmung in ihren Augen ein
trojanisches Pferd der Russen ist, erklärt Syroid so: Das „gesonderte Gesetz“,
von dem hier die Rede ist, existiere im Entwurf bereits - und es gebe Moskau
alles, was es wolle: Selbstverwaltung für die Separatistengebiete samt eigener
Miliz und Sonderbeziehungen zu Russland. Indem die geplante ukrainische
Verfassung die Inkraftsetzung dieses Gesetzes vorschreibe, werde sie praktisch
zur „Waffe Russlands“: Wer den Separatisten im Osten Selbstverwaltung und
bewaffnete Macht zugestehe, ohne dass zuerst Russland seine Truppen abziehe,
werde nur Moskaus Einfluss innerhalb der Ukraine verewigen. „Damit
wird die Verfassung zur Waffe der Russen.“
Was ist dran an Syroids Argumenten? Zunächst hat das ukrainische
Parlament das Gesetz, von dem sie spricht, tatsächlich schon im vergangenen
September beschlossen - samt allen Zugeständnissen an die Separatisten. Weil
der Präsident es allerdings nie unterzeichnet hat, ist es noch nicht in Kraft.
Im Ringen mit Russland gehört es damit zur Verhandlungsmasse der ukrainischen
Unterhändler.
So gefährlich wie eine entsicherte Granate
Auch die Erzählung über die Einflüsterungen aus Deutschland und
Frankreich hängt nicht völlig in der Luft. Das Telefongespräch in letzter
Minute, in dem nach Syroids Darstellung Merkel und Hollande den
Parlamentspräsidenten Hrojsman zu Ergänzungen am Text des Verfassungsentwurfs
drängten, hat nach einer Mitteilung auf der Website des Bundespresseamts
tatsächlich stattgefunden, und zwar am 14. Juli, einen Tag bevor der Text dann
wirklich verändert wurde. In der Berliner Mitteilung heißt es, die Kanzlerin
und der französische Präsident hätten dabei „ausdrücklich“ gutgeheißen,
entsprechende Passagen über die Ostukraine in die Verfassung „aufzunehmen, wie
es im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehen ist“.
Aber nicht nur Berlin und Paris haben damals Einfluss genommen.
Washington drängte in dieselbe Richtung. Am 15. Juli, als nach dem Anruf
Merkels und Hollandes der Reformentwurf ergänzt worden war und nun für den
kommenden Tag zur Abstimmung ans Parlament geleitet wurde, sagte die
Abteilungsleiterin im amerikanischen Außenministerium Victoria Nuland in einem
Treffen mit ukrainischen Abgeordneten, der veränderte Text werde „eine Lösung
der Situation im Donbass erleichtern“.
Oksana Syriods Kritik an der „aufgezwungenen“ Verfassungsbestimmung zum
Donbass wird im proeuropäischen Lager von vielen geteilt. Nicht wenige in
diesem Milieu glauben, dass der Minsker „Deal“ mit Russland - ein „besonderer“
Status für das Donbass als Gegenleistung für den Abzug der fremden (also
russischen) Truppen - für die Ukraine so gefährlich ist wie eine entsicherte
Granate. Noch riskanter wird die Sache in dieser Interpretation, wenn die
Ukraine den verlangten Sonderstatus gewährt, ohne dass die Russen ihrerseits
abziehen. Dann nämlich entstünde mitten im ukrainischen Staat ein schwer
bewaffnetes russisches Satellitengebiet, durch dessen Macht Moskau den 2014
eingeschlagenen Westkurs des ganzen Landes blockieren könnte. Den Alliierten
empfiehlt Syriod deshalb einen „realistischeren“ Ansatz ohne Illusionen: „Wir
sollten zur Kenntnis nehmen, dass diese Gebiete schlicht vom Feind besetzt
sind, und dann auf dieser Grundlage versuchen, mit ihnen zu koexistieren.“
Prowestliche Koalition in Gefahr
Im ukrainischen Parlament drohen Bedenken dieser Art das europäisch
orientierte Regierungslager zu spalten. Am 16. Juli, bei der ersten Abstimmung
über die Verfassungsreform, haben zwei von fünf „prowestlichen“ Fraktionen
beinahe geschlossen gegen den vom Präsidenten vorgelegten Text gestimmt - neben
Syroids „Selbsthilfe“ die „Radikalen“ des Nationalpopulisten Oleh Ljaschko. Nur
mit Hilfe des „Oppositionsblocks“ (den verbliebenen Anhängern des 2014 nach
Russland geflohenen ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch) konnte der
Entwurf des Präsidenten mit 288 Stimmen der Zweidrittelmehrheit von 300 Stimmen
nahe kommen, die später in zweiter Lesung nötig wird.
Auch Poroschenko selbst scheint der nach westlichen Interventionen in
letzter Minute abgeänderte Entwurf nicht wirklich zu gefallen. Poroschenko geht
zwar nicht so weit, wie Syroid den ausländischen „Druck“ als Verstoß gegen das
„Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung“ zu deuten, aber vor dem Parlament hat
er am Tag der ersten Abstimmung ausdrücklich Verständnis für diejenigen
geäußert, die es „schwierig“ fänden, „für so eine Klausel“ zu stimmen. Auch ihm
selbst werde es schwerfallen zu unterzeichnen, „aber wir müssen es tun - für
die Ukraine“. Die „amerikanischen und europäischen Partner“ hätten eben ihre
„berechtigten Interessen“, und es dürfe nicht dazu kommen, dass die Ukraine
„dem Aggressor“ zuletzt alleine gegenüberstehe.
Ob und wie der Reformentwurf eines Tages in Kraft treten wird, ist offen.
Das Verfassungsgericht hat ihn Anfang August gebilligt, jetzt stehen noch zwei
Lesungen im Parlament bevor. Zuletzt wird eine Zweidrittelmehrheit nötig. Wenn
Poroschenko dann versuchen sollte, die fehlende Unterstützung aus dem
europäischen Lager wieder durch ein Bündnis mit den Anhängern des gestürzten
Janukowitsch zu kompensieren, könnte das die prowestliche Koalition in Gefahr
bringen. Bei Syroids „Selbsthilfe“, aber auch in anderen Gruppierungen des
Regierungslagers, ist Poroschenko, der Milliardär im Präsidentenamt, ohnehin
nicht beliebt. In diesen Fraktionen lebt noch der „antioligarchische“ Geist der
Majdan-Revolution von 2014. Manche nehmen dem Präsidenten sein in trüben Zeiten
erworbenes Vermögen übel und warten nur auf einen Anlass zum Bruch mit ihm. Die
Verfassungsdebatte könnte dieser Anlass werden.
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